Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Eike Juhre

Ritterfahrt im Spätmittelalter. Leo von Rožmitál auf Europareise 1465–1467. Studie - Textausgabe – Kommentar.

Eike Juhre Reisen als zentrales Phänomen vor allem der spätmittelalterlichen Adelskultur in Europa sind seit geraumer Zeit Gegenstand intensiver historischer Forschung. Wenngleich auch Formen, Anlässe und Motive der Unternehmungen über die Zeit variierten – Pilgerfahrt oder Kriegszug, Heirat oder Diplomatie, Abenteuerlust oder Heilsstreben –, so war den adligen Reisenden doch eines gemein: Sie nahmen – explizit oder implizit – immer auch eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen ein und erlangten Bedeutung als Auslöser und Träger von Kulturtransfer.

Ein spektakulärer Fall aus dem Spätmittelalter ist die rittersreis des böhmischen Herrn Leo von Rožmitál und Blatná. Begleitet von einem stattlichen Gefolge aus Adligen, Rittern, Patriziern, Knechten, Köchen und Spielleuten unternahm Herr Leo mit umfangreichem Tross und ausgestattet mit kaiserlichen und königlichen Empfehlungsschreiben in den Jahren 1465–1467 von Böhmen aus eine Rundreise an die Höfe und Pilgerorte Westeuropas.

Als die illustre Reisegesellschaft nach über einjähriger Fahrt zuletzt den Kaiserhof in Wiener Neustadt erreichte, konnte Herr Leo der staunenden Hofgesellschaft bereits einige seiner Errungenschaften präsentieren: Nicht nur afrikanische Sklaven und exotische Tiere wurden mitgebracht; ein Musikant aus dem Gefolge hatte in der Fremde eine Reihe portugiesischer Tänze kennengelernt und befleißigte sich zur Freude der Kaiserin, Melodien und Schrittfolgen sogleich ihrem kleinen Sohn Maximilian, dem späteren Kaiser Maximilian I., beizubringen – zwei unterschiedliche Belege für Kulturtransfer.

Ziel des Forschungsprojekts ist es, im Zuge einer bislang nicht geleisteten umfassenden historischen Aufarbeitung der Reise Leos von Rožmitál mögliche Transferprozesse im Kontext der Adelsreise zu identifizieren und zu beschreiben. Im Zentrum steht dabei die Analyse der beiden parallel überlieferten Berichte zweier Mitreisender, des böhmischen Knappen Václav Šašek von Bívkov und des Nürnberger Patriziers Gabriel Tetzel; die Texte sollen zusätzlich in einer Neuedition vorgelegt werden. Der Gang der Untersuchung orientiert sich unter anderen an folgenden Fragestellungen: Welche Ziele und Motive spielten – im Blick auf eine Typologisierung – bei der Unternehmung eine Rolle? Sie dürften, aufgrund des hohen Ranges Leos von Rožmitál als Schwager des Königs von Böhmen, in erster Linie auch diplomatischer Natur gewesen sein. Wer sind die Träger und Vermittler materieller oder immaterieller Kulturgüter? Hier gilt es, auf der Basis prosopographischer Studien die Biographien der Reisenden und ihre späteren Karrieren bei Hof oder in der städtischen Verwaltung in den Blick zu nehmen. Weiterhin sind die spezifische adlige Reisepraxis im Spätmittelalter sowie zentrale Wege und Kontaktpunkte, in erster Linie die besuchten Königs- und Fürstenhöfe als politische und kulturelle Zentren, aber auch Pilgerorte und Städte in ihrer Funktionalität genauer zu betrachten. Und schließlich stellt sich die Frage nach den langfristigen Wirkungen des Reiseereignisses, die vor allem anhand der textuellen Umsetzung und deren Rezeption, aber auch in Form bildlicher Ausgestaltung sowohl im Nürnberger patrizischen als auch im böhmischen höfischen Kontext weiterzuverfolgen sind.

Zurück